ZUM BUCHEN HALLER Das Gutachten begutachten In Österreich kennt man den Psychiater, Psychotherapeuten und Neurologen vor allem als Gutachter in prominenten Fällen: im Fall des sexuellen Serienmörders Jack Unterweger, des „Bombenhirns“ Franz Fuchs oder im Fall des NS-Euthanasie-Arz- tes Heinrich Gross. Bekannt ist Haller aber auch als exzellenter mündlicher Vermitt- ler seiner Arbeit in unzähligen Vorträgen – auch in der Schweiz. Weniger bekannt ist sein Standardwerk Das psychiatrische Gutachten. Ein Grundriss der Psychiatrie nicht nur für Juristen, sondern für alle, die in ihrer beruflichen Tätigkeit um das Studi- um psychiatrischer Gutachten nicht herum kommen. Das Buch gibt Einblick in die me- thodologischen Grundlagen der Psychiatrie und die Möglichkeiten und Grenzen der psychologisch-psychiatrischen Diagnostik und Therapie. Der Gutachtensteil des Wer- kes ist zwar im Wesentlichen auf das Straf- recht ausgerichtet, lässt sich aber auch her anziehen zu Fragen der Anordnung bei- standschaftlicher Massnahmen, der fürsor- gerischen Unterbringung, der Geschäfts- oder Testierfähigkeit. mk Haller Reinhard: Das psychiatrische Gutachten, Wien 2008, Manz. ISBN 3-214-06592-0 ROENNEBERG Mein Ticken Um vier Uhr früh hellwach und am Schreibtisch – manch einer verkauft das als Selbstdisziplin. Dabei ist es ab einem ge- wissen Alter nichts anderes als die bekann- te präsenile Bettflucht. Jugendliche, die um 0650 Uhr nicht wach zu kriegen sind (ver- gebliches Fensteraufreissen Erziehungs- berechtigter im Januar) – was Wunder! Für die Jugendlichen ist 0650 Uhr nichts anderes als Mitternacht. Till Roenneberg, international bekannter Chronobiologe, hat natürlich noch mehr auf Lager. Auf einer erstaunlich breiten Leiste an Themen zeigt er uns, wo überall innere Uhren ticken – lauern! Nachtaktive Hamster, schwankende Geburtenraten, Zusammenhänge zwischen Geschäftsreisen und Ehelämpen. Und wie ist das nun mit der Sommerzeit? Und was macht die Schichtarbeit? Was die Lektüre so angenehm macht ist nicht nur der span- nende Inhalt, sondern die methodisch ge- konnte Führung durch Fussnoten. Vorwis- sen nicht erforderlich. Wer tiefer rein will, geht zu den Füssen; wer aber am Text kle- ben bleibt, wird dennoch verständnisvoller, somit klüger. gk Till Roenneberg: ticken, Wie wir Köln 2010, Du- Mont, ISBN 978-3- 8321-9520-5 Leinwand gewoben, gefärbt, bedruckt, son- dern Baumwolle aus Übersee. Man geht so- dann über zur Stickerei, und aus der Manu- faktur wird eine Fabrik. Und auch in dieser lässt sich schön arbeiten – bis zu achtzehn Stunden. Täglich. Bis der Ärmel vom lau- fenden Zahnradtriebwerk erfasst, der eine Arm ganz und die andere Hand teilweise zerquetscht werden. Der Patron will nicht zahlen. Rosa Fisch, das Opfer, kann sich ihr Recht vollumfänglich vor Bundesgericht erstreiten. Das einzig Gute an der Sache: ihr Fall führt direkt zur Einführung einer staatlichen Unfallversicherung 1918. Spä- ter folgt die Invalidenversicherung. Alles erstritten. Gesagt all jenen, die heute mei- nen, unsere Sozialversicherungswerke sei- en vom Himmel gefallen. gk Stefan Keller: Spuren der Arbeit. Von der Manufak- tur zur Serverfarm, Zürich 2020, Rot- punkt, ISBN 378-3- 85869-869-8 KELLER Weit über den Thurgau hinaus Die Dynastie der Gonzenbachs regierte das Dorf Hauptwil TG als gehörte es ihr. Und das tat es wohl auch. Der Autor und Histo - riker Stefan Keller («Grüningers Fall») stellt aber nicht diese vorindustrielle Fabrikanten- familie und ihren Hauslehrer Friedrich Höl- derlin ins Zentrum, sondern in einer Reihe schier unfassbarerer – belegter – Anekdoten das Leben der arbeitenden Menschen unter den Gonzenbachs u. a. Im Zentrum stehen nicht jene, die die Geschichte machen, son - dern jene, die sie erleiden. Nicht der Zünd- holzfabrikant Moor in Arbon, sondern der Bub in dessen Fabrik, dem wegen des hochgiftigen Phosphors der Oberkiefer herausfällt. Keller bleibt aber nicht an Ein- zelschicksalen haften. Sie sind für ihn viel- mehr die Startrampe, der sichere Halt, vom Einzelschicksal zum Allgemeinen hinzu- führen. Kinderarbeit, Hungersnot, Mecha- nisierung, Arbeitslosigkeit, Globalisierung. In den Manufakturen der Gonzenbachs wird auf einmal nicht mehr einheimische TURUNEN Geschichte der Arroganz? Blabla. Ich habe das Buch gekauft, weil mir der Titel gefiel und obwohl ich wusste, dass am Titel etwas falsch war: er war nicht von mir. Leider erwies sich auch der Untertitel als viel zu hoch gehängt. Von wegen «Eine kurze Geschichte der Arroganz». Viele Anekdoten, und diese auch noch verkürzt, um schnell auf die Pointe drauf zu hüpfen, verknappt, statt Analyse und Aufklärung. Husch durch alle Epochen der Weltge- schichte gelabert, zusammenhanglos, halt angesammelt. Sicher ist das Bücherl unter- haltsam und interessant. Nur leidet der Au- tor offensichtlich an einer bipolaren Stö- rung seines Wertesystems, wenn ich mich mal seinem hemdsärmeligen Stil anpassen darf. Arroganz und ihre Verwandten, die Hochmut, Übermut, Besserwisserei, Igno- ranz, Eitelkeit – das alles ist laut Turunen von übel und führt direkt ins Loch. Wohin- gegen alles Humanistische, Bescheiden- LEU 02/2020 25